Was Ihr einem dieser Geringsten getan habt – Predigt in der Johanneskirche zu Affaltrach am 16.11.2025
zu Matthäus 25:31-46 (Luther 2017)
Was Ihr einem dieser Geringsten getan habt, …
Bei diesem Zitat denke ich als Rechtsanwalt mit den Spezialgebieten Familienrecht und Strafrecht fast automatisch an meine Mandanten und die Erlebnisse, die wir gemeinsam hatten, denn gerade Straftäter werden ja in der Regel als auf der geringsten gesellschaftlichen Stufe stehend wahrgenommen. Besonders diesen Mandanten ist es daher wichtig, mit ihren eigenen Sorgen, Bedürfnissen und Sichtweisen wahrgenommen zu werden. Und deshalb erzählen mir viele gleich bei unserem ersten Besprechungstermin, wie sich die Situation, die ihnen vorgeworfen wird, aus ihrer Sicht, also „in Wirklichkeit“ abgespielt hat. Und fast standartmäßig enden diese Berichte mit der Frage oder manchmal eher der Aufforderung: „Glauben Sie mir?!“ – „Nein!“ Wie bitte? Wie will man sich denn um die Geringsten kümmern, wenn man ihnen von Anfang an so viel Misstrauen entgegenbringt, dass man ihnen nicht glaubt?
Wenn ich mich dann aber erkläre, entspannt sich das Gesicht meines Gegenübers wieder, denn meine Aufgabe als Anwalt und insbesondere als Verteidiger ist es nicht, den Mandanten in seiner Haltung zu bestärken, sondern ihm zu helfen, in einer gerichtlichen Auseinandersetzung zu bestehen. Und das kann er nur, wenn er weiß, wie der Richter denkt und auf seine Einlassung reagieren wird. Es ist also nicht so, dass ich den Mandanten „nicht glaube, weil ich sie für Lügner halte“, sondern ich versuche, mir nicht eine eigene Meinung zu bilden, sondern die des Gerichts vorauszusehen, um dann zu erklären, was wir ergänzend zum bloßen Vortrag entweder genauer erklären oder gar beweisen müssen. So kann ich erreichen, dass die „Geringsten“ vom Gericht gehört und wahrgenommen werden, und das ist wesentlich entscheidender als eine unkritische Unterstützung der Darstellungsversion des Mandanten durch den Anwalt. Es geht meiner Meinung nach deshalb auch bei der Aufforderung Jesu, etwas für die Geringsten zu tun, nicht nur um die konkreten Situationen, die er uns schildert, sondern grundsätzlich um unseren Umgang miteinander.
Wie motivierend es ist, wenn man die Erfahrung machen darf, von den Mitmenschen geschätzt, und nicht nur als unbeachtlicher „Geringster“ behandelt zu werden, habe ich an einem Mandanten gesehen, den ich jahrelang durch eine Vielzahl von Prozessen geschleust und – zwangsläufig – auch mehr als einmal im Gefängnis besucht habe. Und mehr als einmal habe ich mir nach einem erneuten Rückfall in seiner Drogensucht gedacht, dass er das nicht überleben werde oder zumindest endgültig in den Drogensumpf abgeglitten sei. Er ist aber immer wieder aufgestanden und hat den Kampf um eine Therapie und gegen seine Sucht wieder aufgenommen, sodass er für mich ein echtes Vorbild ala Kämpfernatur und Stehauf-Männchen geworden ist. Er hat die schwersten Schicksalsschläge erlitten, ließ sich davon aber nicht unterkriegen, sondern blieb unerschütterlich bei seiner Hoffnung und seinem Vertrauen auf die Hilfe, die ihm durch Sozialarbeiter, Drogenberater und ehrenamtliche Helfer angeboten wurde. Und da sind wir auch wieder bei dem Jesus-Wort aus dem Evangelium: Was Ihr einem dieser Geringsten getan habt, …. dadurch habt Ihr Gottes Nähe und Hilfe spürbar, erfahrbar werden lassen.
„Ich war hungrig, und Ihr habt mir zu essen gegeben.“ An diese Aussage Jesu dachten die Jugendlichen wohl nicht, die sich in einer Nacht ein Feuerwehrauto „ausgeliehen“ haben, um dann mit Blaulicht und Sirene im Drive in Burger zu bestellen. Danach gehandelt hat eher ein Mandant, für den ich einen Freispruch erreicht hatte, nachdem er ein paar Monate in Untersuchungshaft verbringen musste. Da im Gefängnis Alkoholverbot herrscht, führte ihn sein erster Weg nach der Freilassung zum Kiosk, wo er sich eine Flasche Bier kaufte. Als die leer war, stellte er sie unter einem Baum am Wegrand ab. Da ich wusste, dass er aus dem Obdachlosen-Milieu kam, also mit jedem Cent rechnen musste, wies ich ihn darauf hin, dass er für diese Flasche noch Pfand bekommen könne. Das sei ihm bekannt, meinte er, aber: „Für mich ist heute ein schöner Tag, da soll sich auch noch ein anderer freuen können!“
Wie wichtig ein Besuch für einen Gefangenen ist bzw. die dadurch bestehende Möglichkeit, mit der Außenwelt in Kontakt zu bleiben, habe ich mit einem Lateinamerikaner erfahren, der als Wirtschaftsflüchtling nach Deutschland gekommen war und deshalb wieder abgeschoben werden sollte. Um diese Abschiebung abzusichern, ist er für drei Monate in Abschiebehaft genommen worden. Das hat er sehr gelassen ertragen, denn – so hat er mir erklärt – in einem deutschen Gefängnis gehe es ihm immer noch besser als in seinem Heimatland. Da die deutschen Behörden es aber nicht geschafft haben, innerhalb dieser Frist die Abschiebung zu organisieren, wurde die Inhaftierung nochmals um den gleichen Zeitraum verlängert. Ich als junger Anwalt hatte erwartet, dass mein Mandant auch dieses Mal wieder so gelassen reagieren würde wie am Anfang, aber da hatte ich mich getäuscht: Er ist regelrecht zusammengebrochen, weil er in den vergangenen Monaten die Erfahrung gemacht hatte, dass regelmäßiges Essen und ein Dach über dem Kopf zwar ihre Vorteile haben, aber die Einschränkung der Bewegungs- und Kontaktfreiheit auf Dauer nicht ausgleichen können.
Ähnlich eindrucksvoll war für mich der Hinweis eines Untergebrachten im Juli 2002, der mich bat, ihm eine Euro-Münze zu zeigen: Da er kurz vor Weihnachten 2001 verhaftet worden war, hatte er bis dahin – der Euro ist zum 01.01.2002 eingeführt worden – die neue Währung noch nicht in der Hand gehabt. Diese Episoden zeigen mir, dass der Besuch bei Gefangenen nicht nur wichtig ist, um aktuelle Probleme oder bevorstehende Gerichtsverhandlungen zu besprechen, sondern auch für die zwischenmenschliche Seite.
Und so ist diese Aussage Jesu für mich die Aufforderung, in jedem Mitmenschen seine Würde, also Gottes Gegenwart zu sehen. Und das können wir sowohl hinter den Gefängnismauern als auch davor.
Amen
